Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum „dritten Geschlecht“ hat hohe Wellen geschlagen. Dabei sind einige Missverständnisse entstanden, die hier geklärt werden sollen.
Worum ging es?
Der Kläger („Verfassungsbeschwerdeführer“) besitzt einen Chromosomensatz mit nur einem X-Chromosom. Damit ist er weder ein Mann (Chromosomensatz XY) noch eine Frau (Chromosomensatz XX). Dieses Phänomen lässt sich im bisherigen deutschen Personenstandsrecht nicht abbilden. Das Personenstandsgesetz sieht bisher in § 22 Abs. 3 vor:
Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist (das Kind) ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.
Dies wollte der Kläger aber nicht hinnehmen, da er dadurch „geschlechtslos“ wirken würde. Er wollte vielmehr den Eintrag „inter“ oder „divers“ erwirken.
Was hat das BVerfG entschieden?
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind die angegriffenen Regelungen des Personenstandsgesetzes verfassungswidrig,
soweit sie eine Pflicht zur Angabe des Geschlechts begründen und dabei Personen, deren Geschlechtsentwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsentwicklung Varianten aufweist und die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, keinen positiven Geschlechtseintrag ermöglichen, der nicht „weiblich“ oder „männlich“ lautet.
Dies verstößt gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Denn dieses schützt auch die geschlechtliche Identität einer Person.
Der Bundestag muss das Gesetz also dahingehend ändern, dass auch ein drittes Geschlecht eingetragen werden kann. Ob das nun, wie der Kläger verlangte, „inter“ oder „divers“ lautet, ist nicht gesagt.
Warum kann es nicht einfach bei keinem Geschlechtseintrag bleiben?
Auch dazu hat sich das BVerfG natürlich geäußert:
Durch den offenen Geschlechtseintrag würde nicht abgebildet, dass sie sich zwar nicht als Mann oder als Frau, aber auch nicht als geschlechtslos begreift, und nach eigenem Empfinden ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich hat.
Kann der Gesetzgeber auch entscheiden, dass gar kein Geschlecht mehr eingetragen wird?
Ja, das ist möglich und das wird in dem Urteil auch durchaus als Option genannt. Wenn bei keinem Kind, egal ob einem Geschlecht zuordenbar oder nicht, ein Geschlecht eingetragen wird, dann erscheinen letztere nicht mehr als „geschlechtslos“. Das Geburtenregister gibt dann einfach gar keine Auskunft mehr über das Geschlecht.
Kann sich jetzt jeder sein Geschlecht aussuchen, wie er will?
Nein. Dieses Urteil hat nichts mit Gender-Sternchen oder -Mainstreaming zu tun. Es bleibt natürlich dabei, dass es genau zwei Geschlechter gibt, man fast jede Person biologisch eindeutig einem dieser Geschlechter zuordnen kann und dieses Geschlecht schon mit der Zeugung unverrückbar feststeht.
Es ging dabei nur um die extrem seltenen Fälle, in denen das Geschlecht des Betroffenen dauerhaft nicht feststellbar ist. Dafür wird aber kein neues Geschlecht „erfunden“, sondern es wird angegeben, dass eine Einordnung in beiden bestehenden Geschlechter nicht möglich ist.
Personen, deren biologisches Geschlecht eindeutig feststellbar ist, die sich damit jedoch nicht identifizieren können, sind von diesem Urteil nicht betroffen. Diese können sich nach wie vor nach dem Transsexuellengesetz für das andere Geschlecht entscheiden, sich einer entsprechenden Operation unterziehen und ihren Vornamen ändern. Das Prozedere ist langwierig und durchaus belastend, die Voraussetzungen dafür sind sehr hoch und haben keineswegs etwas mit Launen oder leichtfertigen Entscheidungen zu tun.
Sollte sich das Bundesverfassungsgericht nicht um Dinge kümmern, die wichtiger sind und/oder mehr Menschen betreffen?
So funktioniert die Verfassungsbeschwerde nicht. Das BVerfG muss über alle Klagen entscheiden und kann keinen Antrag als „unwichtig“ ablehnen. Es ist gerade das Wesen der Individualverfassungsbeschwerde, dass eine Person ihre eigenen Grundrechte einklagt. Das ist sogar eine ausdrückliche Zulässigkeitsvoraussetzung (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG). Ob und wie viele andere Personen möglicherweise davon betroffen sind, ist dagegen nicht erheblich.
Wie wurde die Problematik früher gelöst?
Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig ist, gab es schon immer. Ihre rechtliche Einordnung differierte aber durchaus.
Das bayerische Zivilgesetzbuch von 1756 (Drittes Kapitel, § 2, Satz 3) regelt es folgendermaßen:
Hermaphroditen werden dem Geschlecht beygezehlt, welches nach Rath und Meinung deren Verständigen vordringt, falls sich aber die Gleichheit hierin bezeigt, sollen sie selbst eins erwählen, und von dem Erwählten sub Pœna Falsi nicht abweichen.
Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 (Erster Teil, erster Titel, §§ 19 bis 23) hingegen sah vor:
§. 19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Aeltern, zu welchem Geschlechte sie erzogen werden sollen.
§. 20. Jedoch steht einem solchen Menschen, nach zurückgelegtem achtzehnten Jahre, die Wahl frey, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle.
§. 21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig beurtheilt.
§. 22. Sind aber Rechte eines Dritten von dem Geschlecht eines vermeintlichen Zwitters abhängig, so kann ersterer auf Untersuchung durch Sachverständige antragen.
§. 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet, auch gegen die Wahl des Zwitters, und seiner Aeltern.
Nach der Gründung des deutschen Staates 1867 bzw. 1871 wurde schließlich auch das Personenstandsrecht vereinheitlicht. Ab 1875 gab es für solche Fälle keine Regelung mehr, erst 2013 wurden die – nun angegriffenen – Vorschriften erlassen.
Bleibt es bei drei Geschlechtern oder kann man sich dann auch noch andere Geschlechter „erklagen“?
Das ist nicht hundertprozentig sicher, aber wohl eher unwahrscheinlich.
Dieses „dritte Geschlecht“ fungiert ja schon als „Auffanggeschlecht“, indem es sogar nach dem Willen des Klägers mit „inter“ (ungefähr „zwischen männlich und weiblich“) oder „divers“ (ungefähr „etwas anderes als männlich oder weiblich“) offensichtlich keine genaue Geschlechtsbezeichnung in sich trägt.
Insofern ist nicht erkennbar, dass es daneben noch Personen geben könnte, deren Persönlichkeit nicht mindestens durch den neuen Eintrag abgebildet würde. Dass es zukünftig dann vier, zwölf oder 56 Geschlechter geben wird, lässt sich aus diesem Urteil jedenfalls nicht herleiten.
Ein Gedanke zu „BVerfG, Beschluss vom 10.10.2017, 1 BvR 2019 / 16 („drittes Geschlecht“)“
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