BVerfG, Beschluss vom 19.05.2023, 2 BvR 637/23

Auf einen Eilantrag von Rechtsanwalt Helmut Linck (Augsburg), unterstützt durch Rechtsanwalt Thomas Hummel, hat das Bundesverfassungsgericht einen Eilbeschluss gegen eine mehrwöchige Totalbeobachtung in der Psychiatrie erlassen.

Die Beschuldigte in einem Strafverfahren sollte wegen mehrerer, noch nicht gerichtlich festgestellter Vergehen bis zu sechs Wochen in einem Bezirkskrankenhaus untergebracht und dort von Sachverständigen beobachtet werden. Das Bundesverfassungsgericht sah hierin, wie von den Rechtsanwälten vorgetragen, einen möglichen Verstoß gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht.

Die endgültige Entscheidung obliegt nun dem Hauptverfahren, die Gefahr einer Inhaftierung ist aber vorerst abgewendet.

Mehr dazu:

BVerfG, Beschluss vom 01.08.2022, 1 BvQ 50/22

Das Familienrecht bekommt in immer größerem Maße eine internationale Komponente.
Das Familienrecht bekommt in immer größerem Maße eine internationale Komponente.
Diesem Verfahren lag nach vorläufigen Erkenntnissen ein sehr komplexer Sachverhalt aus dem Familienrecht zugrunde: Die Kindesmutter hatte ihr Kind im Jahr 2014 ohne Zustimmung des Vaters aus Spanien nach Deutschland gebracht. Dieser erklagte daraufhin vor einem spanischen Gericht das Sorgerecht.

Anschließend verlangte er vom zuständigen deutschen Familiengericht die Umsetzung dieses Urteils nach internationalen Rechtsnormen, nämlich

  • nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) sowie
  • nach der EU-Verordnung über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (Brüssel-IIa-Verordnung).

Prinzipiell darf das deutsche Gericht diese Entscheidung nicht inhaltlich überprüfen. Allerdings war hier fraglich, ob überhaupt eine solche Entscheidung durch das spanische Gericht hätte ergehen dürfen. Diese komplizierte Rechtsfrage konnte das Bundesverfassungsgericht jedoch im Rahmen seiner Eilentscheidung nicht klären.

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BVerfG, Beschluss vom 29.07.2022, 2 BvR 54/22

Polizeiliche Maßnahmen greifen häufig in das informationelle Selbstbestimmungsrecht ein.
Polizeiliche Maßnahmen greifen häufig in das informationelle Selbstbestimmungsrecht ein.
Der Verfassungsbeschwerdeführer in diesem Verfahren war Beschuldigter in einem Strafverfahren wegen Sachbeschädigung. Konkret soll er einige Graffiti an eine Hauswand gesprayt haben, wobei er von einem Zeugen beobachtet worden sein soll.

Im laufenden Ermittlungsverfahren wurden dann seitens der Polizei erkennungsdienstliche Maßnahmen angeordnet, insbesondere die Abnahme von Fingerabdrücken und die Erstellung von Photos des Beschuldigten. Auch die zuständigen Ermittlungsrichter (Amtsgericht sowie Landgericht Zwickau) bestätigten diese Anordnungen.

Hiergegen wehrte sich der Betroffene aus zweierlei Gründen:

Maßnahmen nicht zielführend bzw. nicht notwendig

Die Abnahme von Fingerabdrücken ergebe keinen Sinn. Denn am Tatort seien keine Fingerabdrücke gefunden worden, die man nun abgleichen könnte.

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BVerfG, Urteil vom 26.02.2020, 2 BvR 2347/15 u.a. (geschäftsmäßige Sterbehilfe)

Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe für verfassungswidrig erklärt.
Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe für verfassungswidrig erklärt.
§ 217 Abs. 1 StGB verbietet die geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung. Geschäftsmäßigkeit bedeutet, dass man etwas wiederholt tut. Nicht notwendig ist dabei aber, dass man damit Geld verdient. Die nicht geschäftsmäßige, also laienhafte Suizidhilfe ist dagegen nicht strafbar, wie Abs. 2 der Vorschrift klarstellt.

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelungen auf verschiedene Verfassungsbeschwerden hin heute für verfassungswidrig erklärt. Auch wenn das Urteil noch nicht vorliegt, lassen sich aus der ausführlichen Pressemitteilung doch einige Erkenntnisse ableiten:

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BVerfG, Beschluss vom 05.03.2015, 2 BvR 746/13 (Durchsuchung von Strafgefangenen)

Der Verfassungsbeschwerdeführer war Strafgefangener.

Er wehrte sich gegen die Praxis, ihn zu verschiedenen Anlässen komplett nackt zu durchsuchen. Das Landgericht lehnte seinen Antrag ab.

Hiergegen wollte er Rechtsbeschwerde einlegen und beantragte daher die Gewährung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung eines Rechtsanwalts. Diesen Antrag wies das Oberlandesgericht zurück, da es keine Aussicht auf Erfolg gebe.

Daraufhin legte er Verfassungsbeschwerde ein.

Unzulässigkeit mangels Rechtswegerschöpfung?

Interessant ist dieses Verfahren auch aufgrund einer Frage:

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BVerfG, Beschluss vom 10.10.2017, 1 BvR 2019 / 16 („drittes Geschlecht“)

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum „dritten Geschlecht“ hat hohe Wellen geschlagen. Dabei sind einige Missverständnisse entstanden, die hier geklärt werden sollen.

Worum ging es?

Für Personen, die weder männlich noch weiblich sind, hat das Bundesverfassungsgericht nun ein drittes Geschlecht geschaffen.
Für Personen, die weder männlich noch weiblich sind, hat das Bundesverfassungsgericht nun ein drittes Geschlecht geschaffen.
Der Kläger („Verfassungsbeschwerdeführer“) besitzt einen Chromosomensatz mit nur einem X-Chromosom. Damit ist er weder ein Mann (Chromosomensatz XY) noch eine Frau (Chromosomensatz XX). Dieses Phänomen lässt sich im bisherigen deutschen Personenstandsrecht nicht abbilden. Das Personenstandsgesetz sieht bisher in § 22 Abs. 3 vor:
Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist (das Kind) ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.

Dies wollte der Kläger aber nicht hinnehmen, da er dadurch „geschlechtslos“ wirken würde. Er wollte vielmehr den Eintrag „inter“ oder „divers“ erwirken.

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BVerfG, Urteil vom 27.02.2008, 1 BvR 370/07

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.

Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. Die Maßnahme kann schon dann gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr für das überragend wichtige Rechtsgut hinweisen.

Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems ist grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen. Das Gesetz, das zu einem solchen Eingriff ermächtigt, muss Vorkehrungen enthalten, um den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen.

Soweit eine Ermächtigung sich auf eine staatliche Maßnahme beschränkt, durch welche die Inhalte und Umstände der laufenden Telekommunikation im Rechnernetz erhoben oder darauf bezogene Daten ausgewertet werden, ist der Eingriff an Art. 10 Abs. 1 GG zu messen.

Verschafft der Staat sich Kenntnis von Inhalten der Internetkommunikation auf dem dafür technisch vorgesehenen Weg, so liegt darin nur dann ein Eingriff in Art. 10 Abs. 1 GG, wenn die staatliche Stelle nicht durch Kommunikationsbeteiligte zur Kenntnisnahme autorisiert ist.

Nimmt der Staat im Internet öffentlich zugängliche Kommunikationsinhalte wahr oder beteiligt er sich an öffentlich zugänglichen Kommunikationsvorgängen, greift er grundsätzlich nicht in Grundrechte ein.

BVerfG, Beschluss vom 16.01.2010, 2 BvR 2299/09

Die Auslieferung an ein Land, in dem dem Beschwerdeführer eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung droht, verstößt gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG).

Das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) umfasst auch einen Anspruch darauf, zu allen Anträgen der Gegenseite gehört zu werden. Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG kommt auch dann in Betracht, wenn der Beschwerdeführer sich in einem früheren Stadium des Verfahrens hat äußern können und geäußert hat. Denn das Grundrecht auf rechtliches Gehör erschöpft sich nicht darin, einem Betroffenen die Gelegenheit zu gewährleisten, dass er im Verfahren überhaupt gehört wird, sondern gewährleistet die Gelegenheit, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern, also grundsätzlich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite (vgl. BVerfGE 19, 32 <36>; 49, 325 <328>). Daraus folgt unter anderem, dass ein am Verfahren Beteiligter nicht verpflichtet ist, von sich aus nachzuforschen, ob von den übrigen Verfahrensbeteiligten Schriftsätze eingereicht oder Anträge gestellt worden sind (vgl. BVerfGE 17, 194 <197>; 50, 381 <385>; 64, 135 <144>). Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet die Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, dass das Gericht dem Beteiligten Gelegenheit geben muss, sich zum Gegenstand des Verfahrens sowie zum Verfahren selbst – insbesondere auch zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen, zum Vortrag der übrigen Beteiligten, zu Ergebnissen sowie entscheidungserheblichen Rechtsfragen – sachgemäß, zweckentsprechend und erschöpfend zu erklären (vgl. BVerfGE 50, 280 <284>; 50, 381 <384>; 89, 28 <35>).

Hinweis: Bevor eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt werden kann, ist regelmäßig eine Anhörungsrüge notwendig.