Zum Hergang:
Der Beschwerdeführer ließ sich im Jahre 1964 von Bekannten Tageszeitungen aus der DDR zu Informationszwecken per Post nach Münster i. W. zusenden. Eine Sendung enthielt ein Exemplar der Nr. 126/1964 der „Leipziger Volkszeitung“ vom 8. Mai 1964. Diese Sendung wurde bei einer Kontrolle nach dem Überwachungsgesetz in Braunschweig angehalten, von Beamten des dortigen Hauptzollamtes geöffnet und an die Staatsanwaltschaft Braunschweig weitergeleitet. Die Staatsanwaltschaft hielt die Sendung zurück.
(…)
In diesem Beschluß hatte das Landgericht Lüneburg die „Leipziger Volkszeitung“ Nr. 126 vom 8. Mai 1964 wegen Verstoßes gegen §§ 42, 47 BVerfGG, §§ 128, 94, 90a StGB eingezogen.
Zur Bedeutung der Informationsfreiheit:
Jedoch hat das Landgericht bei der Anordnung der Einziehung die Ausstrahlungswirkung des in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Rechts des Beziehers oder Lesers der Zeitung, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten (Informationsfreiheit), nicht berücksichtigt.
Ein demokratischer Staat kann nicht ohne freie und möglichst gut informierte öffentliche Meinung bestehen. (…) Es gehört zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen, sich aus möglichst vielen Quellen zu unterrichten, das eigene Wissen zu erweitern und sich so als Persönlichkeit zu entfalten. Zudem ist in der modernen Industriegesellschaft der Besitz von Informationen von wesentlicher Bedeutung für die soziale Stellung des Einzelnen. Das Grundrecht der Informationsfreiheit ist wie das Grundrecht der freien Meinungsäußerung eine der wichtigsten Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie.
Zur Reichweite des Grundrechts:
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG schützt nicht nur ein aktives Handeln zur Informationsverschaffung, sondern ebenso die schlichte Entgegennahme von Informationen. Das Grundgesetz will eine möglichst umfassende Unterrichtung des Einzelnen gewährleisten. Eine „Unterrichtung“ ist auch aus Quellen möglich, die ohne Zutun des Empfängers in seinen Wahrnehmungsbereich gelangen.
Zur allgemeinen Zugänglichkeit einer Quelle:
Die Informationsfreiheit ist verfassungsrechtlich nur dann gewährleistet, wenn die Informationsquelle allgemein zugänglich ist.
Dies ist in der Regel der Fall, wenn die Informationsquelle technisch geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit, d. h. einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen. Zeitungen und andere Massenkommunikationsmittel sind daher von Natur aus allgemein zugängliche Informationsquellen. Sie verlieren die Eigenschaft als allgemein zugängliche Quelle auch dann nicht, wenn durch staatliche Maßnahmen wie Einziehungen, Importverbote oder -beschränkungen die Möglichkeit des allgemeinen Zugangs beeinträchtigt wird. Solche Beschränkungen, die dem ungehinderten Zugang zur Informationsquelle entgegenstehen, beseitigen nicht die Allgemeinzugänglichkeit. Entscheidend ist allein die tatsächliche Art der Abgabe der Information, nicht die staatliche Bestimmung oder Verfügung.
Die Ansicht, die Allgemeinzugänglichkeit werde maßgebend von Hoheitsakten beeinflußt, widerspricht dem Zweck der verfassungsrechtlichen Verbürgung der Informationsfreiheit. Dem Einzelnen soll ermöglicht werden, sich seine Meinung auf Grund eines weitgestreuten Informationsmaterials zu bilden. Er soll bei der Auswahl des Materials keiner Beeinflussung durch den Staat unterliegen.
(…)
Die Informationsfreiheit wurde gerade als Reaktion auf die nationalsozialistischen Informationsverbote und -beschränkungen verfassungsrechtlich garantiert, um die ungehinderte Unterrichtung auch aus Quellen, die außerhalb des Herrschaftsbereiches der Staatsgewalt der Bundesrepublik bestehen, zu gewährleisten. Wenn die Informationsquelle an irgendeinem Ort allgemein zugänglich ist, mag dieser auch außerhalb der Bundesrepublik liegen, dann kann auch ein rechtskräftiger Einziehungsbeschluß nicht dazu führen, dieser Informationsquelle die Eigenschaft der allgemeinen Zugänglichkeit zu nehmen.
Zur Einschränkbarkeit des Grundrechts:
Die verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Annahme, eine einzuziehende Schrift verstoße gegen Strafgesetze, bedeutet noch nicht, daß das Informationsrecht zurücktreten muß.
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Bei der erforderlichen Abwägung ist nicht isoliert auf die Gefährdung mittels der Wirkung auf den einzelnen Bezieher abzustellen, sondern davon auszugehen, daß diese Schriften in großen Mengen in die Bundesrepublik versandt werden, und daher zu prüfen, ob bei den gegebenen Verhältnissen generell ein Gefährdungseffekt gegeben ist. Andererseits handelt es sich im vorliegenden Verfahren allein um in der DDR erscheinende, in erster Linie für das dortige Publikum bestimmte Presseerzeugnisse und nicht um speziell für Agitationszwecke in der Bundesrepublik hergestellte Schriften.
Sollte das Landgericht bei der Abwägung einen Vorrang der jedem Bürger zustehenden Informationsfreiheit nicht feststellen können, wird es zusätzlich zu prüfen haben, ob nicht ein spezielles berechtigtes Informationsinteresse Einzelner gebietet, zu ihren Gunsten die sich auf alle Exemplare der Zeitung beziehende Einziehung zu beschränken, zumal trotz Vorliegens der Voraussetzungen die Einziehung nach dem Ermessen der Gerichte auch ganz unterbleiben kann.
Ein Gedanke zu „BVerfG, Urteil vom 03.10.1969, 1 BvR 46/65“
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