Gerichtliche Leitsätze:
- Der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG schließt familiäre Bindungen zwischen nahen Verwandten ein, insbesondere zwischen Großeltern und ihrem Enkelkind.
- Der grundrechtliche Schutz umfasst das Recht naher Verwandter, bei der Entscheidung über die Auswahl eines Vormunds oder Ergänzungspflegers in Betracht gezogen zu werden. Ihnen kommt der Vorrang gegenüber nicht verwandten Personen zu, sofern nicht im Einzelfall konkrete Erkenntnisse darüber bestehen, dass dem Wohl des Kindes durch die Auswahl einer dritten Person besser gedient ist.
- Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Auswahlentscheidung nach § 1779 BGB entsprechend allgemeinen Grundsätzen darauf, ob sie Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Grundrechts naher Verwandter beruhen.
Der Sachverhalt:
Verfassungsbeschwerdeführerin in diesem Verfahren war die Großmutter zweier Kinder, die sich vor den Familiengerichten vergeblich um die Vormundschaft für ihre beiden Enkelkinder bemüht hatte.
Die Mutter der beiden Kinder, die Tochter der Beschwerdeführerin, hatte das Sorgerecht für ihre Kinder teils freiwillig aufgegeben, teils wurde es ihr entzogen. Daraufhin brachte das Jugendamt eines der Kinder in einer Pflegefamilie unter. Damit wollte sich die Oma aber nicht abfinden.
In ihrer Verfassungsbeschwerde rügte sie in erster Linie die Verletzung der in Art. 6 GG geregelten Familiengrundrechte.
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG
Zunächst einmal bietet sich das auf solche Fälle zugeschnittene Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG an:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.
Zunächst besteht das Problem, dass dieses Grundrecht nur für die Eltern gilt. Großeltern sind aber schon begrifflich keine Eltern. Hier geht das Bundesverfassungsgericht aber über den reinen Wortlaut des Grundgesetzes hinaus. Auf dieses Grundrecht können sich demnach auch Großeltern berufen, „die bereits zu Vormündern bestellt sind und ihr Enkelkind anstelle der Eltern pflegen und erziehen“ (Rdnr. 14).
Das ist durchaus interessant und hilft Großeltern weiter, denen die Vormundstellung schon zuerkannt wurde und später wieder entzogen werden soll. So weit war die Beschwerdeführerin hier aber noch nicht, da sie die Vormundstellung erst erreichen wollte. Das Grundrecht hilft ihr dann aber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht weiter, es gibt also auch keine „Vorwirkung“ des Grundrechts.
Art. 6 Abs. 1 GG
Außerdem besteht aber auch noch das allgemeine Schutzrecht der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG:
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
Familie ist zunächst einmal die Kernfamilie aus Eltern und Kindern. Aber auch die weitere Familie ist geschützt. Dies begründet das Bundesverfassungsgericht wie folgt (Rdnr. 23): „Intensive Familienbindungen treten nicht nur im Verhältnis zwischen heranwachsenden Kindern und Eltern auf, sondern sind auch zwischen Mitgliedern der Generationen-Großfamilie möglich. Besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft können insbesondere im Verhältnis zwischen Enkeln und Großeltern, aber auch zwischen nahen Verwandten in der Seitenlinie zum Tragen kommen.“
Weil dieser Schutz des Verhältnisses zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Enkelin besteht, hat sie auch ein Recht auf vorrangige Berücksichtigung bei der Auswahl des Vormunds: „Der grundrechtliche Schutz familiärer Beziehungen zwischen nahen Verwandten jenseits des Eltern-Kind-Verhältnisses umfasst deren Recht, bei der Entscheidung über die Auswahl eines Vormunds oder Ergänzungspflegers berücksichtigt zu werden, sofern tatsächlich eine engere familiäre Bindung zum Kind besteht.“
Allerdings bedeutet dies nur, dass die zuständigen Behörden und Gerichte die Großmutter als Vormund in Betracht ziehen musste. Gegenüber gleich geeigneten fremden Personen besitzt sie auch Vorrang. Einen Anspruch darauf, auch tatsächlich ausgewählt zu werden, hatte sie aber nicht automatisch.
Die Auswahlentscheidung muss aber den verfassungsrechtlichen Garantien ihres Grundrechts entsprechen. Das Bundesverfassungsgericht wählt also nicht selbst den Vormund aus, sondern prüft lediglich, ob Fehler erkennbar sind, die die Grundrechte der Beschwerdeführerin verletzen.
BVerfG: Gerichte haben Grundrechte ausreichend berücksichtigt
Das war aber, so das BVerfG, nicht der Fall: „Das Familiengericht ist von einer besonderen Stellung der Beschwerdeführerin bei der Auswahl des Vormunds ausgegangen und hat deren Bestellung nicht von überzogenen Anforderungen abhängig gemacht. (…) Das Familiengericht ist vielmehr mit ohne Weiteres nachvollziehbaren Erwägungen zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Kindeswohl bei einem Verbleib in der Pflegefamilie besser gedient sei als bei einem Wechsel zur Beschwerdeführerin.
Die Gerichte sind also vom gesetzlich festgelegten Kindeswohl als Richtschnur ausgegangen, haben verfassungsrechtlich zutreffend die Großmutter vorrangig als möglichen Vormund berücksichtigt, sich schließlich aber aus triftigen Gründen gegen sie entschieden.
Welche Gründe dies waren, erfahren wir aus dem Urteil nicht. Dies war aber auch nicht relevant, da das Bundesverfassungsgericht nicht die Rechtsanwendung als solche, sondern nur die Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüft.
Bewertung durch Rechtsanwalt Thomas Hummel:
Obwohl die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis nicht erfolgreich war, sind die Aussagen des Gerichts doch als positiv zu werten.
Insbesondere die (vorrangigen) Rechte der erweiterten Familie wurden betont. Damit haben Großeltern (analog aber bspw. auch Geschwister oder Onkel und Tanten) vorrangig das Recht, sich um Kinder aus der Familie kümmern zu dürfen, falls die Eltern ausscheiden.
Im familienrechtlichen Verfahren sollten diese Personen unbedingt auf diese Entscheidung hinweisen und ihre Grundrechte geltend machen. Das ist, wie man an diesem Beschluss sieht, zwar keine Garantie für einen positiven Ausgang, in Zweifelsfällen kann dies aber durchaus den Ausschlag geben.