Gerade deswegen gibt es aber hohe Hürden für die Annahme eines nicht rechtsstaatlichen oder unfairen Verfahrens. Denn das Bundesverfassungsgericht will es schlicht nicht „einreißen lassen“, dass man jede prozessuale Entscheidung eines Gerichts über die Verfassungsbeschwerde überprüfen lassen kann.
In dieser Verfassungsbeschwerde ging es um ein ganz spezielles Verfahren, nämlich um eine Entschädigung für DDR-Unrecht. Da es sich dabei auch um ein verwaltungsrechtliches Verfahren gegen eine staatliche Entscheidung handelte, war auch noch der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz betroffen. Dies ändert freilich nichts an den Anforderungen, die für alle Verfahren gelten.
Ein kleiner Unterschied ist lediglich der Amtsermittlungsgrundsatz, den es aber im gesamten Straf- und Verwaltungsrecht gibt. Dies bedeutet, dass das Gericht den Sachverhalt selbständig erforschen muss und sich – nicht wie im Zivilprozess – auf die Behauptungen und Beweisanträge der Parteien beschränken kann.
Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst einmal folgende Grundsätze zum Rechtsstaatsprinzip dargelegt:
- Das Gericht muss eine umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Verfahrensgegenstandes durchführen.
- Das Gericht hat alle zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen Maßnahmen zu treffen. Es hat sämtliche Erkenntnisquellen zu verwenden, die dazu führen können, die Angaben eines Betroffenen zu bestätigen. Dabei reichen grundsätzlich Anregungen des Beteiligten, aus denen sich Ansatzpunkte für das Gericht ergeben.
- (Erst) wenn das Gericht alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft hat, entscheidet es in freier Beweiswürdigung. Der Grundsatz „in dubio pro reo“, dass also im Zweifelsfall immer für den Bürger zu entscheiden sei, gilt hier aber nicht.
Angewandt auf den Fall bedeutet dies:
- Der Antragsteller wollte Entschädigung für die rechtswidrige Unterbringung in einem staatlichen Kinderheim der DDR, nachdem seine Mutter aus politischen Gründen verhaftet wurde.
- Die Rechtswidrigkeit der Unterbringung ergibt sich vor alle daraus, dass Verwandte bereit gewesen wären, ihn aufzunehmen. Hierauf hat der Antragsteller auch hingewiesen.
- Trotzdem sind die Gerichte dieser Frage nicht nachgegangen und haben angenommen, es habe keine aufnahmebereiten Verwandten gegeben.
- Somit ist keine umfassende tatsächliche Prüfung der Tatsachengrundlage des Urteils erfolgt. Dies bedeutet einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip.
Ein Verfassungsverstoß liegt demnach (schon) dann vor, wenn das Gericht den Sachverhalt nicht in genügender Weise feststellt. Dies ist im Vergleich zu den sonst gültigen Anforderungen für eine Verfassungsbescherde noch etwas einfacher zu schaffen. Im Rahmen des Verfahren sollte man darum im Hinblick auf eine folgende Verfassungsbeschwerde das Gericht stets zumindest in die Möglichkeit versetzen, den Sachverhalt vollständig aufklären zu können.
Im Verfahren mit Beibringungsgrundsatz (v.a. Zivilprozesse) bedeutet dies, dass stets formelle Beweisanträge gestellt werden müssen, um sich im Falle der Ablehnung durch das Gericht darauf berufen zu können, dass man prozessordnungsgemäß alles Notwendige getan hat. In Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz sollte man genauso vorgehen, wobei die Beweisanträge zur Not auch etwas weniger formalistisch gehandhabt werden können und reine Anregungen reichen.
Sofern Sie diesen Text erst lesen, wenn das Verfahren schon abgeschlossen ist, wird zu prüfen sein, ob diese prozessualen Anforderungen trotzdem erfüllt wurden. Das wird häufig der Fall sein, wenn das Verfahren von vornherein gewissenhaft geführt wurde. Beweismittel, die einem erst nachträglich eingefallen sind und deswegen im Verfahren nicht einmal angesprochen wurden, können aber keine Rolle mehr spielen.
Volltext der Entscheidung: https://www.bundesverfassungsgericht.de/e/rk20211209_2bvr198516.html